06.12.2005
Der große Bruder und wir
1984
„Big brother is watching you” („Der große Bruder
sieht dich“) – dieser Satz über den allgegenwärtigen
Diktator in einem totalitären Zukunftsstaat ist sprichwörtlich
geworden. Orwells Buch „1984“ ist immer noch hochaktuell,
das gilt auch für seine Verfilmung durch Michael Radford.
Der Rezeptionsmechanismus ist nach wie vor ein bisschen kompliziert:
1948 schreibt ein sterbenskranker Autor einen Zukunftsroman, in dem
die politischen Weltverhältnisse des Jahres „1984“ im
Voraus beschrieben werden. Dieses Buch wird genau im Jahre 1984 verfilmt
(zum zweiten Mal übrigens, die erste Version von 1956 war schwarz-weiß),
und heute – George Orwell wäre schon über 100 Jahre
alt – lesen wir das Buch und/oder sehen wir den Film, also mehr
als 20 Jahre nach dem sprichwörtlichen fiktiven Jahr 1984. Zudem
müssen die Worte des französischen Historikers Georges Minois
bedacht werden: „Die Vorhersage klärt uns nicht über
die Zukunft auf, sondern spiegelt die Gegenwart wider. Insofern gibt
sie Aufschluss über Mentalitäten, die Kultur einer Gesellschaft
und einer Zivilisation.“ (Natürlich ist „1984“ ein
Anagramm von „1948“, dem Jahr, in dem die Trümmerlandschaften
des Zweiten Weltkriegs jedem Leser noch vor Augen lagen). Wir können
eine weitere Ebene hinzufügen: ein gutes Buch, ein guter Film
schildern auf bestimmte Weise immer auch die Gegenwart des jeweiligen
Lesers bzw. Zuschauers.
Michael Radfords Verfilmung wird zweifellos solchen Ansprüchen gerecht. Die Geschichte von Winston Smith, der das entscheidende Gedankenverbrechen begeht, indem er sich in Julia verliebt und damit dem durch die allgegenwärtige Partei propagierten Hass etwas Positives und Individuelles entgegensetzt, diese Geschichte wurde in enger Anlehnung an den Text kongenial umgesetzt. Das Elend des Lebens in Ozeanien, das sich in einem endlosen Krieg mit den beiden anderen verbliebenen Weltmächten Eurasien und Ostasien befindet, wird in schockierenden Bildern eingefangen; durch Trümmerlandschaften irren abgerissene Gestalten, in schäbigen Büros arbeiten die Angestellten des Wahrheitsministeriums, das in Wahrheit nur Lügen produziert, die Kantinenspeise ist ekelhaft, die Wohnungen starren vor Schmutz; unausweichlich blickt von allen Wänden das Bildnis des großen Bruders, tönen überall die Siegesmeldungen und Hassgesänge. Die Düsternis der Orwell’schen Schreckensvision wird im Film adäquat umgesetzt, ja noch verschärft. John Hurt spielt Winston Smith. Sein oft in Großaufnahme eingefangenes zerfurchtes Gesicht spiegelt das ganze Elend dieses Lebens in der totalitären Diktatur wider. Suzanna Hamilton als Julia verkörpert eine Ahnung von Schönheit und Jugend, doch am Ende ist auch sie eine graue seelenlose Marionette. Der große Richard Burton setzt sich im letzten Film vor seinem Tod ein Denkmal: Mit ruhiger Kälte spielt er den zwielichtigen Parteifunktionär O’Brien, der zunächst Vertrauen erweckt und dann Winston bestialisch foltern lässt, ohne seine weiche eindringliche Stimme zu erheben. Ein Automat des Terrors. Filmische Mittel werden zur Intensivierung der Aussage eingesetzt.
Zeitlupenhafte Rückblenden zeigen Winstons Jugend und den Verlust
der Familie. Durch Überblendungen entstehen Kontraste von größter
Wirkung: Man sieht gleichzeitig, wie Winston kahlgeschoren und dabei
gedemütigt wird, und wie er mit Julia Sex hat – auf einem
Foto, das die Gedankenpolizei heimlich durch den versteckten Teleschirm
aufgenommen hat. Schockierend die Szene, in der beide nackt Rücken
an Rücken stehen, die Hände hinter der Kopf verschränkt,
während die Polizei das Haus stürmt. Hier umkreist die
Kamera das Paar in seiner völligen Hilflosigkeit. „1984“ - Die klassische Anti-Utopie der Weltliteratur
ist als Buch und Film weiterhin eine zeitlose Parabel. Ein furchtbares
Gleichnis.
Manfred Lauffs /
Wertung:
* * * * *
(5 von 5)
Filmdaten 1984 (Nineteen Eighty-Four) GB 1984; Regie & Drehbuch: Michael Radford (nach George Orwell); Darsteller: John Hurt (Winston Smith), Suzanna Hamilton
(Julia), Richard Burton (O’Brien), Cyril Cusack (Charrington),
Gregor Fisher (Parsons) u.a.; Produzent: Marvin J. Rosenblum; Kamera: Roger Deakins; Schnitt: Tom Priestley;
Musik: Eurythmics; Länge: 113 Minuten; FSK: ab 16 Jahren. |
|