16. Oktober 2000 Die Shakespeare-Adaption ist mehr als gelungen und verschreckt Puristen
„There’s
too much confusion, I can’t get no relief“ (Dylan), singt der Totengräber.
Dabei trifft er genau den Kern von Almereydas Hamlet, der alles
andere als leicht verdaulich daher kommt und gerade bei Shakespeare-Puristen
auf wenig Gegenliebe stoßen mag.
New York 2000. Der „König“ der Prince Denmark Corporation
ist tot, ermordet von seinem Bruder, der sich nun nicht nur die
Krone aufsetzt, sondern auch Gertrude, die Frau des toten Königs
und Hamlets Mutter, heiratet ... Bühnensprache auf dem Anrufbeantworter,
gefaxte Drohbriefe, ein Nachrichtensprecher, der den Epilog verliest
– wie schnell wirkt das überflüssig, lächerlich,
anmaßend? Dass dies bei Almereydas Adaption nicht der Fall
ist, liegt zum einen am großen Respekt, der der Vorlage
gezollt wird – wie etwa die konsequente Beibehaltung der ursprünglichen
Titel und Anreden -, zum anderen an der spürbaren, aber behutsamen
Ernsthaftigkeit, mit der die Problematik an die heutige Zeit angepasst
wird. So wird nicht etwa nur schlicht Pferd in Auto übersetzt,
die Staats- und Familientragödie wird in eine Wirtschaftstragödie
im familiären Rahmen übertragen. Handlungen der Staatsraison
weichen gekonnt und zwingend logisch kapitalistischen Interessen
und ihren Folgeerscheinungen: Demonstrativ zerreißt der
neue König Claudius auf einer Presseerklärung das Titelblatt
einer Zeitschrift, die seinen „Konkurrenten“ Fortinbras zeigt,
nicht, weil ihn persönliche Gefühledazu trieben, sondern
weil die Bestätigung der geänderten Machtverhältnisse
dies erfordert. Denn Emotionen haben hier noch weniger Platz als
im Staate Dänemark, der doch schon ach so faul erschien.
Es
bereitet großes Vergnügen, Schauspieler zu sehen, denen
das Vergnügen an ihrer Rolle anzusehen ist. Einen von ihnen
hervorzuheben hieße, den anderen nicht gerecht zu werden,
denn kaum einem, vielleicht Rosencrantz und Guildenstern, die
etwas überdreht wirken, ist hohe schauspielerische Inspiration
und darstellerischer Einsatz abzusprechen. Neben den traditionellen
Glanzrollen Hamlet und Ophelia muss dennoch unbedingt Bill Murray
als Polonius erwähnt werden: In seinen Klugheiten dumm, in
seiner Höflichkeit lästig, in seiner Unscheinbarkeit
aufdringlich – toll! Angenehme Überraschung für alle,
die ihn nach "Larger Than Life" schon abgeschrieben
haben. Natürlich gilt aber auch hier – wie so oft – dass,
wenn möglich, die Original-Version der Synchronisation vorzuziehen
ist.
Nach der feministischen Interpretation durch Nielsen, der psychoanalytischen
durch Olivier, der rebellischen durch Smoktunowski, der schizophrenen
durch Meyer, der zweifelnden durch Gibson und der missglückten
durch Branagh, gibt es nun auch Hamlet, den Tatmenschen, der mit
vorgehaltenerPistole voran stürmt, dabei jedoch durchaus
näher zum Selbstmord,als zum Mord neigt. Seinen großen
Monolog hält inmitten der Action-Abteilung einer Videothek,
die Aufschriften der Filme wirken alsMenetekel, deren Eindringlichkeit
der Prinz sich nicht entziehen kann. Auf eine brutale Welt, in
der Brutalität als Unterhaltung dient, kann die Antwort nur
brutal sein. Nicht gespart wird demzufolge auch mit expliziter
Gewaltdarstellung, die in den USA einen R-Code in der Altersfreigabe
bewirkte. Unterstützt wird diese durch subjektive Kamera,
MTV-hafte Sequenzen und einer Musik, die zwischen orchestraler
Breite und hämmerndem Techno schwankt, wobei dem Zuschauer
kaum eine Chance gegeben wird, sich dem Dargestellten zu entziehen.
Eine mehr als nur sehr gut gelungene Umsetzung des zeitlosenShakespeare-Klassikers
– aber, wie gesagt: Nichts für Puristen!
Stefan
Strucken / Wertung: (4 von 5)
Quelle der Fotos: Verleih
FilmdatenHamlet USA 2000, Regie/ Drehbuch (nach William Shakespeares Hamlet): Michael Almereyda, Kamera:John de Borman, Schnitt: Kristine Boden, Musik: Carter Burwell,Produzenten:Jason Blum, John Sloss, Darsteller: Ethan Hawke (Hamlet), Kyle MacLachlan(Claudius), Sam Shepard (Geist), Diane Venora (Gertrude), Bill Murray (Polonius),Liev Schreiber (Laertes), Julia Stiles (Ophelia), Karl Geary (Horatio),Steve Zahn (Rosencrantz), Dechen Thurman (Guildenstern), et al., Länge: 123 Min., Verleih: Arthaus, Kinostart Deutschland:23.11.2000 |