Hitchcocks
"Die Vögel" aus seinem Spätwerk gehört
sicher zu den bekanntesten Filmen des Suspense-Meisters. Zeitlich
einzuordnen ist er zwischen einem anderen Hitchcock-Klassiker,
"Psycho" (1960), und "Marnie" (1964). Beide
Filme handeln von sexueller Verdrängung bzw. von der Norm abweichendem
Verhalten und damit verbundenem Wahnsinn. Das läßt mißtrauisch
werden, ob es nicht auch unter der Oberfläche des dritten Films
brodelt.
Auf den ersten Blick handelt der Film vom unerwarteten Angriff
der Vögel auf die Menschen: Sie attackieren in Schwärmen
die Einwohner von Bodega Bay in der Nähe von San Francisco,
und sie töten auch einige ihrer Opfer. Es ist der Überraschungsangriff
eines zahlenmäßig überlegenen Feindes aus der
Luft. Das erste Opfer einer vereinzelten Möwe wird Melanie
Daniels (Tippi Hedren, brilliert in einer ihrer ersten Rollen).
Sie ist eher zufällig in Bodega Bay, da sie Mitch Brenner
(Rod Taylor) nachgefahren ist, dem sie am Tag zuvor in einer Vogelhandlung
begegnete. Brenner wohnt zusammen mit seiner strengen Mutter Lydia
(Jessica Tandy) und seiner kleinen Schwester Cathy, für die
er zwei "Unzertrennliche" ("Love birds") kaufen
wollte. Die hat Melanie Daniels als Geschenk mitgebracht, auch
um Mitch wiederzusehen, an dem sie interessiert ist. Kurzentschlossen
bleibt sie über das Wochenende. So wird sie Zeuge von weiteren
und heftigeren Angriffen der Vögel.
Der Film überzeugt durch einen durchdachten Spannungsbogen:
einer langen, ruhigen Exposition mit mehreren Verweisen auf die
unruhigen Vögel folgen Schlag auf Schlag die gewaltigen,
lauten Attacken.
Den Höhepunkt bildet der letzte Angriff auf das Haus der
Brenners, in welchem sich Melanie, Mitch, Lydia und Cathy verbarrikadiert
haben. Sie sind vollkommen isoliert, stark verängstigt und
wären eigentlich den eindringenden Vogelmassen nicht gewachsen
- doch die Vögel lassen sie ziehen. Es herrscht eine bedrohliche
Ruhe nach dem Sturm, als die Menschen mit letzter Kraft das Haus
verlassen und sich durch die Vögel den Weg in die Freiheit
bahnen, mit dabei den Käfig mit den "Unzertrennlichen".
Zuletzt hat der Zuschauer wirklich einen Eindruck vom "Ende
der Welt", das vorher ein Betrunkener prophezeite.
Die teilweise recht langen Angriffsszenen vermögen auch
heute noch zu schockieren. Hitchcock fühlte sich herausgefordert,
alle damals möglichen Mittel auszureizen, um sie möglichst
naturalistisch wirken zu lassen.
Das Vogelgeschrei und sämtliche andere Geräusche sind
durchkomponiert, Musik fehlt ganz.
Hier sehen wir auch eines der explizitesten und blutigsten Bilder
aus Hitchcocks Werk, für wenige Sekunden werden die ausgehackten
Augenhöhlen eines toten Mannes gezeigt.
Diese spektakulären Momente lenken leicht von den anderen
Geschichten ab, die in dem Film stecken:
Die anbahnende Romanze zwischen Melanie und Mitch, Melanies Wandlung
von einer verwöhnten und überheblichen Abenteuerin zu
einer Frau, die Verantwortung übernimmt und Mitgefühl
entwickelt. Am Ende ist sie verwundbar und gebrochen.
Interessant ist auch die Vorgeschichte von Mitch, seine kurze
Beziehung zu der Lehrerin Annie Hayworth, die später sterben
muß. Die Beziehung endete wegen Lydias kühler Behandlung
von Annie. Hier entwirft Hitchcock eine weitere dominante Mutterfigur
wie zuvor in "Psycho" und anderen Filmen.
Dieses Thema nimmt relativ viel Raum ein, auch Melanies Mutter
wird im Gespräch zwischen ihr und Mitch erwähnt. Überhaupt
sind die Dialoge des Films intelligent ausgefeilt und auf Wesentliches
reduziert.
"Die Vögel" ist somit mehr als nur ein Horrorfilm
oder Katastrophenfilm, und dadurch spannender und zeitloser als
die reißerischen Fließbandproduktionen mit Ameisen,
Killerbienen oder Mörderspinnen, die folgen sollten.
Faszinierend ist die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein der
Menschen - ganz ähnlich wie Cary Grant in seiner Rolle in
"Der unsichtbare Dritte" ("North By Northwest") auf dem
freien Feld nicht vor dem angreifenden Flugzeug fliehen kann.
Der beliebte kleine Hitchcock-Ratgeber von Francois Truffaut
klärt uns darüber auf, daß Hitchcock die Idee
aus Daphne du Mauriers Kurzgeschichte mochte, nach der es ganz
normale unauffällige Vögel sein sollten welche angreifen.
Hitchcock weist auch in seinem amüsanten Trailer - welcher
gespickt ist mit schwarzem englischen Humor - daraufhin, wie viele
Motive die Vögel doch hätten, um am Menschen Rache zu
nehmen. Schließlich jagt und tötet sie der Mensch,
ißt sie, hält sie zum Spaß in Käfigen gefangen
oder stellt sie ausgestopft zur Dekoration auf ( wie Norman Bates
).
Doch natürlich macht es uns der Meister nicht zu einfach
und liefert keine komplette Interpretation.
P. S.: Das Buch "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?"
von Francois Truffaut ist als Taschenbuch im Heyne-Verlag erschienen
und ist auch für Leute geeignet, die nicht ausschließlich
Interesse an Hitchcocks Werk haben, sondern am Film generell.
1999 wurde es zu Hitchcocks 100. Geburtstag neu im Großformat
aufgelegt.
Es gehört mittlerweile zu den Klassikern unter den Filmbüchern.