Zur vollständigen Darstellung der Seite aktivieren Sie bitte Javascript. Filmrezension: Hannibal
 

Neue Familienmodelle im Film


von Christian Horn, Dezember 2013


Frisch geschieden und alleinerziehend, in "wilder Ehe" oder als schwule Regenbogenfamilie. Was früher als Schmach galt, ist heute weitgehend salonfähig – im wahren Leben wie im Kino. Im selben Maße wie Patchworkfamilien und andere moderne Familienentwürfe in der Gesellschaft zunehmen, thematisieren Filme diese Lebensmodelle in verschiedenen Schattierungen. Zum einen bildet das Kino die vergleichsweise neuen Alternativen zu traditionellen Familienformen seismographisch ab, zum anderen machen Filme Vorschläge für neue Formen des Zusammenlebens: Kino imitiert Leben, das Kino imitiert.

Die neue Vielfalt

In den 1950er-Jahren beherrschte die kleinbürgerliche Wirtschaftswunder-Familie mit Vater, Mutter und Kind das gesellschaftliche Parkett. Filme wie "Bitterer Honig" (Tony Richardson, USA 1961) thematisierten zwar auch alternative Familienmodelle, Scheidungen waren gesellschaftlich aber ebenso verpönt wie Kinderlosigkeit oder berufstätige Frauen. Seitdem hat sich die Grundhaltung der Gesellschaft verändert. Zwar geht aus dem aktuellen Datenreport der Bundeszentrale der politischen Bildung hervor, dass im Jahr 2011 fast drei Viertel der Familien aus Ehepaaren mit Kindern bestanden, doch gleichzeitig macht diese klassische Form des Zusammenlebens immer mehr Alleinstehenden, Alleinerziehenden oder Unverheirateten Platz.

Wo es zuvor klare gesellschaftliche Vorgaben gab, die im Zuge der 1968er-Bewegung eine erste Aufweichung erlebten, steht heute ein wahres Potpourri an denkbaren Lebensgemeinschaften. An den beiden Adaptionen des Kinderbuchklassikers "Vorstadtkrokodile", die rund drei Jahrzehnte auseinander liegen, ist die neue Vielfalt ablesbar: Während in Wolfgang Beckers Verfilmung aus dem Jahr 1977 noch das patriarchalische Familienbild der 1970er-Jahre dominiert, steht in der Adaption aus dem Jahr 2009 hinter fast allen Mitgliedern der Kinderbande ein anderes Familienmodell – von der alleinerziehenden Studentin bis zum Ehepaar.

Woher komme ich?

Dass die Familie als gesellschaftliches Kernthema in etlichen Filmen eine explizite Rolle spielt oder zumindest die Motivationen der Figuren klärt, liegt in der Natur der Sache. Schließlich blicken auch Filmemacher/innen auf ein Familienleben zurück, das ihnen erste Orientierungshilfen lieferte. Außerdem ist die "Keimzelle" der Gesellschaft ein sozialer Raum, der einiges über den Zustand einer Gesellschaft aussagt. Es ist also sinnvoll, bei Familienstrukturen anzusetzen, um das große Ganze im Kleinen aufzuspüren.

Filme über Familien speisen sich oft aus den persönlichen Erfahrungen der Filmemacher/innen. So zeigt das programmatisch betitelte Erstlingswerk "I Killed My Mother" (Kanada 2009) einen 17-jährigen Sohn, der gegen seine alleinerziehende Mutter rebelliert und zugleich mit der eigenen Identität ringt – das Skript schrieb Xavier Dolan, als er selbst im Alter der Hauptfigur war, die er auch gleich selbst spielt. In Deutschland ist Oskar Roehler einer der Regisseure, die sich offen an der eigenen Familiengeschichte abarbeiten. In "Die Unberührbare" (Deutschland 2000) spielt Hannelore Elsner eine Dichterin, die an Roehlers ebenfalls schriftstellerisch tätige Mutter Gisela Elsner erinnert. In einem Interview in der „Welt“ beschreibt Roehler die Beziehung zu seinen "manischen" Eltern als schwierig: "Ich als Kind war für die beiden wie eine Wand, gegen die sie ihre Tischtennisbälle geschmettert haben." Auch in seinem Literaturdebüt "Herkunft" erzählt Roehler von der schwierigen Beziehung zu den Eltern, die ihn als Vierjährigen verlassen haben, und von seinem Nazi-Großvater, der ihm emotionalen Halt gab. Der Titel des Romans gibt das Programm vor, genau wie jener der zugehörigen Verfilmung: "Quellen des Lebens" (Deutschland 2012).

Familienalltag im Brennpunkt

Doch Regisseure/innen verhandeln nicht nur die eigene Herkunft, sondern auch ganz praktische Belange moderner Familienformen. In der Tragikomödie "Eltern" (Deutschland 2013) spielen Charly Hübner und Christiane Paul die berufstätigen Eltern zweier Kinder, die eine Balance zwischen Selbstverwirklichung und Familienpflichten suchen. Robert Thalheim nimmt die Konstellation mit den beiden Brötchenverdienern als soziale Tatsache, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Auf ähnliche Weise zeigt Jason Reitman die Patchworkfamilie der Protagonistin aus "Juno" (USA 2007) als etwas Alltägliches – genauso wie das Familienmodell des Paares, das ein Kind adoptieren will, nicht grundsätzlich zur Disposition steht.

Auch in "The Kids are All Right" (USA 2010) erscheint die im Mittelpunkt stehende "Regenbogenfamilie" als das Normalste der Welt. Mit einem Schuss Ironie zeigt Lisa Cholodenko die an traditionellen Familienformen orientierte Rollenaufteilung eines lesbischen Paares mit Tochter und Sohn. Als der die Kinder ihren biologischen Vater auftauchtaufspüren, steht plötzlich die Frage im Raum, welche Rolle der väterliche Part in der Kindererziehung spielt. Gleichzeitig zweifelt der Independentfilm die Mutter-Mutter-Kind-Konstellation aber nie an, sondern betrachtet die queere Familie unter alltäglichen Vorzeichen. Die Tragikomödie ist dabei ausgerechnet in einer Zeit entstanden, als das Recht Homosexueller auf eine Ehe in den USA heftig debattiert wurde. Noch im Jahr 2004 fielen elf Volksabstimmungen in US-Bundesstaaten zum Nachteil der queeren Gemeinde aus, was sich 2008 bei einer erneuten Abstimmung in Kalifornien bestätigte – erst im Jahr 2010 erklärte ein kalifornisches Gericht das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen für verfassungswidrig.

Es ist ein Wesensmerkmal aktueller Filme über Familien, dass sie die neuen Lebensformen nicht grundlegend zur Debatte stellen, sondern auf ihre Alltagstauglichkeit hin abklopfen – und somit als gesellschaftlichen Alltag zeigen. Für ein Lebensmodell wie das der Patchworkfamilie bedarf es keiner Rechtfertigung und eine Scheidung ist kein Tabubruch mehr. Im Zentrum der Filme steht hingegen oft die Frage nach den ausgefransten Rollenbildern von Müttern und Vätern. Damit folgt die filmische Verarbeitung neuer Familienmodelle gesellschaftlichen Trends und produziert zugleich Leitbilder in den Köpfen der Menschen. Filme über moderne Lebensentwürfe und deren tatsächliche Umsetzung sind stark ineinander verwoben, wobei die Kinorealität dem wahren Leben in Einzelfällen voraus sein kann: Nicht alles, was in einem Film oder anderswo als "normal" gilt, ist auch der eigenen Nachbarschaft koscher.



Dieser Essay ist zuerst erschienen bei fluter.de.

 






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Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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