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Politik im Kino – Ist der politische Film wieder da?


von Christian Horn, September 2013



Bei der diesjährigen Oscar®-Verleihung spielte neben der Abendgarderobe der Stars auch das Dekolleté von Michelle Obama eine Rolle. Per Live-Schaltung aus dem Weißen Haus verlas die First Lady die Liste der Filme, die um den Preis für den besten Film konkurrierten, und verkündete den Gewinner. Dass die Academy Ben Afflecks klassisch inszenierten Politthriller "Argo" – die wahre Geschichte über die Befreiung von sechs US-Diplomaten aus dem Iran des Jahres 1979 – mit einem Oscar® auszeichnete, sorgte in Teheran für Missmut. Der iranische Kulturminister bezeichnete "Argo" als "anti-iranisch", retuschierte auf Pressefotos das offenherzige Kleid der Präsidentengattin und erwog nicht nur eine Neuverfilmung der Geschichte aus iranischer Perspektive, sondern auch eine Klage gegen das Produktionsstudio. Dabei ist "Argo" doch "nur" ein Film – oder etwa doch nicht?

Seit geraumer Zeit gibt sich die Oscar®-Academy ziemlich politisch. Neben "Argo" standen mit Spielbergs Biopic "Lincoln", Kathryn Bigelows Thriller "Zero Dark Thirty" und Tarantinos Western "Django Unchained" politisch lesbare Filme über das Wesen der Demokratie, den "War on Terror" oder Rassismus auf der Auswahlliste. Doch auch über die Oscar®-Verleihung hinaus ist in den letzten Jahren in den Feuilletons immer wieder die Rede von einer "Renaissance" des politischen Kinos, das seine Blütezeit in den 1970er-Jahren mit Politthrillern wie Sydney Pollacks Verschwörungsthriller "Die drei Tage des Condor" (USA 1974) oder Alan J. Pakulas "Die Unbestechlichen" (All the President's Men, USA 1976) über die Aufdeckung der Watergate-Affäre erlebte und spätestens seit dem Ende des Kalten Kriegs als mehr oder minder tot galt. Woher könnte dieser neuerliche Boom des Politfilms rühren? Und was ist das überhaupt, ein politischer Film?

Die Renaissance des Politfilms

Die Frage, ob es tatsächlich eine Renaissance des politischen Kinos gibt, lässt sich recht klar mit einem Ja beantworten: Schon ein flüchtiger Blick auf die Kinostartlisten der vergangenen Jahre lässt daran keinen Zweifel. In den USA gilt George Clooney mit Filmen wie "Syriana" (USA 2005) oder "The Ides of March – Tage des Verrats" (USA 2011) als eine Schlüsselfigur des neuen Politfilms. Den Beginn der Wiedergeburt des politischen Films markieren indes Michael Moores Oscar®-prämierte Dokumentation "Bowling for Columbine" (USA 2002) über das High School-Massaker in Littleton und sein 2004 beim Filmfestival in Cannes mit der Goldenen Palme prämierter "Fahrenheit 9/11" (USA 2004), die den Dokumentarfilm auf die Kinoleinwand zurückholten. In der Folge schafften einige weitere Dokus den Weg ins Kino, bevor auch fiktionale Filme von politischer Relevanz vermehrt in die Lichtspielhäuser schwappten.

Um die Frage nach dem Warum dieser Entwicklung zu beantworten, muss man auf den Zustand der Gesellschaft blicken, in der diese Filme entstehen. Die Hochkonjunktur des politischen Kinos in den 1970er-Jahren liegt in den weitreichenden Umwälzungen begründet, die zu einer starken Politisierung der Gesellschaft führten, namentlich die 68er-Revolution, der Vietnamkrieg, der Watergate-Skandal und die atomare Bedrohung während des Kalten Kriegs. Betrachtet man die heutige Weltpolitik, so ist das einschneidende Ereignis des neuen Millenniums schnell ausgemacht: die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA, die tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind und zu den Kriegen in Afghanistan und im Irak sowie zur Einschränkung von Bürgerrechten führten. Daneben liefern die Globalisierung und die Finanzkrise von 2007 den Nährboden für Verunsicherung, aber auch für ein neues politisches Bewusstsein.

Was ist politisches Kino?

Eine klare Bestimmung des facettenreichen Politfilms ist schier unmöglich. Hilfreich ist ein politisches Thema, das wiederum in allen möglichen Formen denkbar ist, etwa als Politiker-Biografie, als Anlehnung an ein reales politisches Ereignis oder atmosphärische Darstellung einer Krisensituation. Eine "Botschaft" ist dabei zwar durchaus möglich und oft wenigstens latent vorhanden, aber nicht zwingend erforderlich – bisweilen genügt die sachliche Darstellung eines Milieus wie das der Immobilienspekulanten in „Margin Call“ (USA 2011), um einen Film als "politisch" zu bezeichnen. Eine zentrale Funktion beziehungsweise Chance des Politfilms ist es, ein Thema öffentlich zu machen und Informationen, Orientierungshilfen oder neue Blickwinkel anzubieten – und nicht zuletzt auch dazu Stellung zu beziehen und das Publikum zum Überdenken eigener Ansichten anzuregen. Die wesentliche Frage ist dabei, inwieweit ein Film tatsächlich eine Politisierung des Publikums erreichen kann, die über den Abspann hinaus anhält. In Einzelfällen kann das sicher gelingen: So ist es gut denkbar, dass manch eine/r nach der Sichtung von Morgan Spurlocks "Super Size Me" (USA 2004) weniger Fastfood verzehrt.

Auch unter Filmemachern und Filmemacherinnen herrscht keine Einigkeit darüber, wie ein politischer Film auszusehen hat: Während Jean Luc-Godard und andere politisch radikale Vertreter des sogenannten Gegenkinos die Kunst als Waffe begreifen und gängige Erzählmuster verschmähen, weil diese vermeintlich nicht zum Aufrütteln des Publikums geeignet sind, vertreten Filmschaffende in der Folge von Constantin Costa-Gavras die Ansicht, dass politisches Kino massentauglich sein darf – schließlich spielen Emotionen auch in der Politik eine Rolle. Mit seinem Meisterstück "Z" (Frankreich, Algerien 1968) lieferte Costa-Gavras die Blaupause für diesen Ansatz, indem er die Beteiligung eines korrupten Staatsapparats an der Ermordung eines Oppositionspolitikers als Thriller inszenierte. Wenngleich dies im Film nie wortwörtlich auf den Tisch kommt, spielt "Z" auf die Militärdiktatur in Griechenland an – schon der Vorspann verdeutlicht das, wenn es heißt: "Übereinstimmungen mit real existierenden Personen und Ereignissen sind gewollt."

Zündstoff für Debatten: Politfilme und Gesellschaft

Vor dem Hintergrund der Genreregeln eines Thrillers erklärt sich auch die einseitige Zeichnung des Irans in "Argo", denn ohne die als Bedrohung dargestellten iranischen Behörden würde der Film als spannender Thriller kaum funktionieren. Doch während Ben Affleck an das Spannungskino der 1970er-Jahre anknüpft, beschreitet Kathryn Bigelow mit "Zero Dark Thirty" einen anderen Weg. Im Gegensatz zu "Argo" inszeniert die Regisseurin die Jagd auf Osama Bin Laden als nüchternes Protokoll ohne großen Pathos. Die Öffentlichkeit polarisierte der Film trotzdem, da Bigelow Folterpraktiken angeblich als legitimes Mittel im Kampf gegen den Terror darstellt. Diese und andere Kontroversen zeigen, dass das politische Kino keine Einbahnstraße ist: So wie politische Filme ihre Themen gesellschaftlichen Stimmungen und Ereignissen entlehnen, wirken die Filme selbst auf die Gesellschaft zurück, in der sie entstanden sind.



Dieser Essay ist zuerst erschienen bei fluter.de.

 






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