Das US-Horrorkino der 1970er & ich
Es hat etwas Befreiendes, als Filmjournalist munter drauf los zu schreiben.
Ohne feste Bindung an bestimmte Formate, Zielgruppen, Kinostartlisten,
aktuelle Aufhänger. Zum Beispiel darf man in einem solchen Essay einfach mal
Ich sagen. Oder ein paar Seitenpfade aufmachen und nicht so lang am Text
rumdoktern, bis die Zeichenzahl passt.
Das Thema soll der moderne US-amerikanische Horrorfilm der 1970er-Jahre
sein. Ein Abriss, keine Vollständigkeit. Ein subjektiver Blick. Klassiker wie William
Friedkins THE EXORCIST (1973) oder Richard Donners THE OMEN (1975) bleiben
außen vor, da sie, gleichwohl modern im Sinne von zeitlos, seinerzeit längst
etablierten Traditionslinien des Genres folgten. Hier geht es um das spezifisch
Neue am amerikanischen 70er-Horrorkino, das in schmierigen Bahnhofskinos
lief, wo Zombies, Irre und Kannibalen ihr stilprägendes Unwesen trieben.
DAWN OF THE DEAD – Teaser
Für mich beginnt die Geschichte des modernen Horrors zuallererst mit einer
persönlichen Entdeckungsreise. Früher schaute ich kreuz und quer sämtliche
Filme, auch Horrorfilme. Der erste aus den 70ern war vermutlich der 1978
erschienene DAWN OF THE DEAD von George A. Romero. Lass uns sechzehn Jahre
alt gewesen sein. Auf der VHS-Kassette des großen Bruders eines Kumpels – ich
schwöre, so war es – guckten wir mit ein paar Jungs dieses Kleinod unter dem
klingenden deutschen Verleihtitel ZOMBIES IM KAUFHAUS. Der Fokus lag auf Bier,
Zigaretten, Splatter. Wir bestellten Pizza und seit diesem Tag bekomme ich bei
blutigen Filmen keinen Bissen mehr runter. In der Folge blieben mir ein paar
derbe Szenen erinnerlich, insbesondere die zahlreichen Kopfschüsse. Die Gewalt
nahm ich damals viel intensiver wahr als heute, doch als Schlüsselwerk begriff
ich den Streifen noch nicht.
NIGHT OF THE LIVING DEAD – Establishing Shot
Meine nächste Begegnung mit dem neuen US-Horrorkino, das ich von 1968 bis
etwa 1980 datiere, war wohl NIGHT OF THE LIVING DEAD, bei dem ebenfalls George
A. Romero Regie führte. Der 1968er Film war nicht nur für das Kino jener Tage
wegweisend, sondern auch für meine Beziehung dazu. Die Erstsichtung als
Jugendlicher erzielte einen zwar positiven, aber keineswegs ehrfürchtigen
Effekt. Erst bei einer erneuten Sichtung auf der besten von den unzähligen
miesen deutschen DVD-Veröffentlichungen (von cmv) und einem gereiften
Filmverständnis im Hinterkopf, erkannte ich in der NACHT DER LEBENDEN TOTEN ein
Schlüsselwerk. Der zweite Blick auf die Geburt der modernen Zombies stachelte
meinen Faible für Horrorfilme an.
Es wurde reichlich über NIGHT OF THE LIVING DEAD geschrieben, ein paar kurze
Anmerkungen sind jedoch erlaubt. Der Low-Budget-Film begründet – nach den
Vorläufern PEEPING TOM, PSYCHO und BLOOD FEAST, die das Slashergenre prägten –
das moderne Horrorkino. Neu war zunächst der für damalige Verhältnisse
kontroverse Grad an Gewaltdarstellung, der aus heutiger Sicht eher harmlos
wirkt. Dennoch erzeugt Romeros Debüt nach wie vor Gänsehaut. Einerseits ist
der Film gealtert, teils kippt er ins Trashige, doch andererseits ist er nach wie
vor in sich stimmig und in Anbetracht des kleinen Budgets fulminant in Szene
gesetzt. Das zeichnet die US-Horrorfilme der Folgejahre aus: Das Kantige und
Sperrige, das B-Movie-artige, Rohe und Unfertige, das Subversive. Deswegen
ihre filmische Raffinesse in Abrede zu stellen oder zu behaupten, sie seien gar
nicht gruselig, ist ein recht uneleganter Irrtum.
Was die 70er-Horrorfilme ebenfalls ausmacht, ist die offensiv vorgetragene
Gesellschaftskritik. Auch hier steht NIGHT OF THE LIVING DEAD Modell, wenn der
schwarze Protagonist von der schießwütigen Miliz, der die Apokalypse als
Spielplatz gerade recht scheint, als vermeintlicher Zombie erlegt und auf einem
Scheiterhaufen verbrannt wird. Angst und Paranoia waren um 1968
bestimmende amerikanische Gefühle und man muss einige gesellschaftliche
Entwicklungen bedenken, um das zeitgenössische Kino zu verstehen.
Vietnam und Atombomben
Im Jahr 1965 traten die USA in den Vietnamkrieg ein, der 1973 ein schlimmes
Ende für die Vereinigten Staaten nahm. Ein gesellschaftliches und mediales
Ereignis: Die Hippies, das Trauma. Das moderne US-Horrorkino entstand mitten
im Krieg. Das hat viel mit Bildern zu tun: Die Fotos und Videoaufnahmen aus
Vietnam lösten Schrecken und Scham aus, was den Horror gedeihen ließ. Das
spürte auch Colonel Kurtz aus APOKALYPSE NOW: "The horror... the horror..."
Das zweite Gesellschaftsthema jener Zeit war die atomare Bedrohung durch
den Kalten Krieg. Damals lag der Finger quasi permanent auf dem roten Knopf,
1962 hätte die Kubakrise fast einen Atomkrieg ausgelöst. Die tiefsitzende
Paranoia, unter anderem in der Kommunistenhatz manifestiert, griffen Filme wie
THREE DAYS OF THE CONDOR und andere Werke des New Hollywood auf, im
Übergang zu den 80ern dann Dystopien wie MAD MAX oder THE TERMINATOR.
Demselben gesellschaftlichen Dunstkreis entstammen die meist
misanthropischen Italowestern, etwa DJANGO und KEOMA, und das italienische
Splatterkino der späten 70er, also Zombie- und Kannibalenfilme wie WOODOO
(dt: DIE SCHRECKENSINSEL DER ZOMBIES) oder CANNIBAL HOLOCAUST (dt: NACKT UND
ZERFLEISCHT). Hier besteht eine Parallele zum Zeitgeisthorror aus Amerika.
Kontext: New Hollywood
NIGHT OF THE LIVING DEAD und seine geistigen Kollaborateure können dem
äußeren Rand des New Hollywood zugerechnet werden. Das ist die filmische
Erneuerungsbewegung, die das Gesellschaftsklima der ausgehenden 60er-Jahre
in Anlehnung an die französische Nouvelle Vague ins US-Kino transferierte. Den
Anfang machten 1967 THE GRADUATE von Mike Nichols und BONNIE AND CLYDE von
Arthur Penn, später folgten großartige Filme wie Peckinpahs THE WILD BUNCH,
Kubricks CLOCKWORK ORANGE oder – zum Ende hin, als Beginn des
Blockbusterkinos – JAWS von Spielberg.
Exkurs: Tierhorror
Über Tierhorror, ein spezielles Subgenre, schreibe ich nur kurz etwas. Pauschal
gesagt rekurrieren sämtliche Tierhorrorfilme ab 1975 auf JAWS, das hierzulande
als DER WEISSE HAI bekannte Kinomeisterwerk schlechthin. Es existieren
massenhaft Trittbrettfahrer, von GRIZZLY, dessen Werbespruch "Jaws with Claws"
lautet, über ORCA, BARRACUDA, PIRANHA bis hin zu MAMBA, ALLIGATOR oder CUJO.
Tierhorror hat häufig etwas mit (oft radioaktiver) Umweltverseuchung und
damit einhergehender Aggressivität oder Riesenwuchs zu tun (bei THE BIRDS und
JAWS jedoch nicht). Das Genre blühte schon 1955 mit TARANTULA & co auf, doch
erst Mitte der 70er erhielt das Genre eine moderne Gestalt, und zwar innerhalb
derselben Bedingungen wie die anderen Horrorfilme jener Zeit.
Vietnam und der Kalte Krieg sind die gesellschaftlichen Eckpfeiler, New
Hollywood eine filmbegriffliche Bündelung. Für den modernen Horror steht
NIGHT OF THE LIVING DEAD am Anfang, dennoch fand das alles auch parallel statt.
Die Zeit war reif. Wie das andere Genre mit den Körperöffnungen steht der
Horrorfilm am Rand der Gesellschaft, guckt drauf, überspitzt, resümiert.
DAWN OF THE DEAD – Close Up
Eine Wegmarke meiner Horrorvorliebe war die Zweitsichtung von DAWN OF THE
DEAD auf einer ungekürzten, restaurierten Import-DVD. Das Schwarzweiß aus
NIGHT OF THE LIVING DEAD ist jetzt Comic, die Gewalt ist Splatter: Grün und blau
geschminkte Zombies lassen massig Hirn und Eingeweide, beißen kräftig zu,
waten durch knallrotes Blut. Die Story springt im Kreis. Beschwingte
Konsumkritik wechselt mit dramatischen Einzelmomenten, ausgedehnten
Kopschusspassagen, einer entgleisenden Talkshow und unmotivierten
Actionszenen. Den Status als Genreklassiker verdient der Film trotzdem. Denn
er verlieh den Ängsten des Jahrzehnts einen popkulturellen Ausdruck, der in
Form heftiger Debatten über filmische Gewaltdarstellung und im Rahmen
cineastischer Kanonbildung auf die kritisierte Gesellschaft zurückwirkte.
THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE – Schlüsselszene
Der dritte Film auf meiner Liste ist THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE von Tobe
Hooper, der 1974 ins Kino kam. Als ich den Kultfilm zum ersten Mal sah,
entfachte das mein Interesse für das US-Horrorkino der 70er endgültig. Das
BLUTGERICHT IN TEXAS, ein essentieller Filmbeitrag zur Paranoia, markiert einen
Höhepunkt des Low-Budget-Kinos. Die physische Präsenz des massigen
Kettensägenkillers, die Ausweglosigkeit der Situation, das gradlinige
Vorpreschen des blanken Horrors machen Hoopers Film zum künstlerisch
wertvollen Meisterstück. Das MoMa nahm TCM in seine Sammlung auf, während
er in Deutschland lang auf dem Index stand und nur in gekürzten, qualitativ
miserablen Fassungen erhältlich war. Erst die akkurat aufbereitete, so gut wie
vergriffene Ultimate Collector's Edition von Turbine Medien schaffte kürzlich
Abhilfe – nach einem kafkaesken Kampf gegen richterliche Beschlüsse und
diverse Paragraphen. Ich könnte viel zum TEXAS CHAINSAW MASSACRE schreiben,
will das euphorische Kurzfazit aber als Anreiz und Hymne stehen lassen. Tobe
Hoopers Exploitationfilm rockt, das steht fest.
Abspann
NIGHT OF THE LIVING DEAD, DAWN OF THE DEAD und das TEXAS CHAINSAW MASSACRE
waren meine ersten einschneidenden Begegnungen mit dem 70er-Horror aus
Amerika, doch bald entdeckte ich viele weitere zentrale Filme. Zwei davon
sollen wenigstens kurz erwähnt werden: Der krude Rape-and-Revenge-Film LAST
HOUSE ON THE LEFT (1972) und der Postapokalypse-Horror THE HILLS HAVE EYES
(1977), beide von Wes Craven, irritieren bis heute mit anarchischer Wucht.
Am Ende des Jahrzehnts belebten Slasherfilme wie HALLOWEEN (1978) von John
Carpenter und FRIDAY, THE 13TH (1980) von Sean S. Cunningham das Horrorkino
weiter. In den 80ern gingen die subversiven Genrefilme des Vorjahrzehnts, von
denen Sam Raimis Debüt THE EVIL DEAD (1981) als einer der letzten gelten kann,
in den Mainstream über. Franchises wie Wes Cravens NIGHTMARE ON ELM STREETReihe
dominierten die Horrorszenerie – Michael Myers, Jason Voorhees, Freddy
Kruger oder die Mörderpuppe Chucky avancierten zu Ikonen der Popkultur.
Während das US-Horrorkino der 1990er-Jahre abseits von SCREAM (1996) und
THE BLAIR WITCH PROJECT (1999) weitgehend im Stillen brodelte, erlebte es in den
Nullerjahren eine Renaissance. Die neue Horrorwelle brachte neben Torture
Porns der Marke SAW und HOSTEL etliche Remakes von 70er-Streifen hervor und
lässt sich – wie der US-Horror ab 1968 – als Reflex auf ein amerikanisches
Trauma lesen: Der Einsturz der Zwillingstürme, die Kriege in Afghanistan und im
Irak, die Folterbilder aus Abu Ghraib.
Dieser Essay ist zuerst 2011 im SLEAZE Magazin #24 erschienen.
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